SABINE
Poetry
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Jacke und Flügel
Es ist wirklich eine Ehre heute hier vor euch zu sprechen
Und wie wirs hier alle tun, das Generaltabu zu brechen,
das da heißt: Schau den Tod nicht an, um Himmelswillen,
sonst ergreift er dich noch vor der Zeit. Dann wird sich selbst erfüllen
deine Angst, die du hast, ihm in die Augen zu sehn
und nur weil du ihn mal anschaust, auf der Stelle zu gehn,
ins Gras zu beißen und den Löffel abzugeben,
einfach abzukratzen und das Zeitliche zu segnen
Angst, dass du dran glauben musst, über den Jordan gehst,
nur weil du hinschaust, ganz bewusst, wo du heute stehst:
Das ist doch Quatsch, verdirbt die Stimmung und du lügst dich an,
denn grade du bist es, die von sich wissen kann:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel://
Mit der Diagnose „sterblich“ werden wir geboren,
haben also von Geburt an schon das Leben verloren.
Wir stehn alle schon mit einem Bein im Himmel oder dort,
wo du denkst, dass du hinkommst, wenn du tot bist, an dem Ort,
der kein Ort ist, sondern außerhalb von Zeit und Raum
und vielleicht ist dieser Nichtort ja auch nur ein Traum.
Trotzdem ist es wirklich wichtig, mir schon heute zu sagen:
Ich bin Mensch, ich werde sterben, und das Leben zu wagen,
damit dich nicht der Schlag trifft und du weg vom Fenster bist,
eine Lücke hinterlässt oder dich einfach verpisst,
sondern hier und heute lebst und für dich selber weißt,
dass das Leben jeden Augenblick das Eine heißt:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Und bevor du dich davonmachst oder sanft entschläfst,
geht es eigentlich darum, dass du endlich lebst,
Nicht aus allen Wolken fällst, wenn der Tod dich mal trifft,
sondern ihn anschaust und grüßt und dich an ihm misst.
Auch wenn du’s nicht wirklich glaubst, das Sterben kannst du üben,
mit jedem Tod, der dir begegnet, jedem Blick nach drüben,
der dich auch dazu treibt genauer hinzusehn,
auf dein eigenes Leben, von dir selber zu verstehn,
wo du eigentlich schon überall gestorben bist,
weil du dich nicht traust zu zeigen, welche Vielfalt in dir ist,
weil du Schritt halten musst oder Aufgaben erfüllen,
oder den Ton angeben oder mittun wider Willen.
Weil du wichtig bist, jede Sekunde voll präsent,
weil ohne dich die Welt ihr Potential verpennt.
Und weil das Höher, Weiter, Schneller dich gefangen hält
im Arbeitstakt deiner Laufradwelt. – Halt an:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Den ersten Sonnenstrahl siehst du nur im Urlaub an,
wenn du ihn dort nicht auch verschläfst, was gut passieren kann.
Denn wenn du ausruhen musst von all deinem Sein,
dann passt das Leben leider öfter nicht ins Leben rein. - Halt an:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Mach die Augen auf und schau dein Leben an,
nur du selber bist doch die, die dich entfalten kann,
dich entwickeln raus aus all dem, was dich eingewickelt hat,
Kleider abstreifen und Häute, eigentlich bist du nackt,
bist du die, die sich selber neu entdeckt und dann,
jede Minute jedes Tages wirklich leben kann,
die lebendig ist, bis in die Herzwurzelspitzen,
deine Einzigartigkeit, wo hast du die denn eigentlich sitzen?
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Wenn ich du sag, dann bin übrigens auch ich gemeint,
hab darüber dieses Jahr schon manche Träne geweint.
Werde langsamer erst langsam als ichs eigentlich will,
das Gedankenkarussel steht immer noch nicht still.
Meine Pläne reichen immer noch ins übernächste Jahr,
dabei ist grade dieser Augenblick so wunderbar.
Solche Schönheit lächelt blättergrün mir ins Gesicht,
Jeder Tautropfen im Gras spiegelt das Sonnenlicht.
Und ich gehe Schritt für Schritt auch über helle Pfade,
fühle meinen Herzschlag wieder, Lebensrhythmusgnade.
Spüre unbändige Freude über alles Sein,
jeder Blick in liebe Augen fängt das Leben wieder ein,
das davongerannt war, weit war es vor mir geflohen
langsam gehend weiß ich wieder – und es ist kein Hohn:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Auch wenn die Tagesschau zerbombt wird und die Welt untergeht,
Covid 99 anrückt und ein neuer Krieg entsteht.
Auch wenn ich all das Leid nicht übersehen kann,
es mich berührt, unter die Haut geht, ja, gerade dann
ist es wichtig, die Verbindung zu mir selbst nicht zu verlieren,
hinter all dem rohen Schrecken das Lebendige zu spüren,
und die Zartheit einzuladen und im Herzen klar zu bleiben
und das Eigene zu wagen, meinen Namen zu schreiben
in den Lauf des Lebens, das Geschenk zu sein,
das das Schicksal mir gemacht hat hinter allem Schein,
immer langsamer zu werden und dann still zu stehn,
und mein Leben von der anderen Seite her zu sehn.
Mit den Augen des Todes, denn auf ihn läuft alles zu,
nur er selbst blickt mir entgegen, steht in großer Ruh,
seine Arme weit geöffnet, so lädt er mich ein,
bis zum Lebensende lebendig zu sein:
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//: Jacke und Flügel, wir tragen Jacke und Flügel. ://
Und ich spiegele mich im Auge meiner Endlichkeit,
ich drehe mich um – und alles wird weit.
Und alles in mir wird endlich still - und lächelt und flüstert
ein Gedicht von Giannina Wedde:
Leg deine Ängste nieder
Für eine Nacht nur gib den Sternen was dich sorgt
Denn alle Dinge, die wir halten sind geborgt
Du darfst die Augen schließen, es kehrt Ruhe wieder
Du darfst vergessen, was dich eben noch gebeugt
Das Blau der Nacht lass fließen
das eine namenlose Liebe treu bezeugt
Du bist von ihr umgeben
lass nun den Dingen ihren Lauf und schlafe ein
Du bist beschenkt mit Leben
Ein jeder Morgen lockt dich zärtlich Licht zu sein